Nach der Wiedervereinigung Deutschlands in 1990 verstand man den 2. Weltkrieg und den mit ihm verbundenen Wiederaufbau nicht mehr als wichtigste soziale Referenz. Der Blick war ab diesem Zeitpunkt weder rückwärts noch vorwärts gerichtet, sondern ging eher Richtung Geldbeutel. Gesellschaftliche Ziele im Dienst der Gemeinschaft rücken in den Hintergrund. Der persönliche finanzielle Erfolg steht zentral, verstärkt durch notwendige wirtschaftliche, soziale und politische Anpassungen. Die Wende, oder eher das Ende des „Kalten Kriegs“, brachte mit sich, dass die Finanzindustrie erstmals wirklich unbehindert ihre Geschäfte mittels globalem, steuerfreien, nicht reguliertem Geldverkehr machen konnte. Die wichtigsten ökonomischen Entwicklungen finden seitdem in der Finanzindustrie statt. Die Gesamtmenge Vermögen und Geld in der Welt hat seit 1990 exponentiell zugenommen. Gab es weltweit in 1990 ungefähr 4 Quadrillionen US-Dollars, ist heute die Menge etwa 3,6-mal so viel.
Sicherlich gab es zwischenzeitlich ökonomisches Wachstum, aber durchschnittlich wohl keine 360 Prozent weltweit. Das heißt, die Finanzindustrie erzeugt viel mehr neues Geld als die “reale“ Wirtschaft Güter und Werte bereitstellt. Dieses Geld in der Hand weniger Besitzer und Finanzinstitute ist ständig auf der Suche nach Investitionen, entweder in Form hoher Renditen oder langfristiger Sicherheiten. Im globalen, unbeschränkten Kapitalmarkt werden die Geldströme immer größer, und Immobilien, per Definition lokal angesiedelt, diesbezüglich relativ billiger. Im Alltag sind die Konsequenzen unmittelbar für die Gesellschaft spürbar.
Ein ökonomischer Leitspruch der Nachkriegszeit war, dass die Bauökonomie der Motor der Gesellschaft war. Durch das exponentielle Wachstum der Finanzindustrie hat die relative Wichtigkeit der Bauindustrie jedoch stark abgenommen. In vielen Kleinstädten strukturschwacher Regionen ist das Amt des Baudezernenten heutzutage nur noch ehrenamtlich, ein klarer Ausdruck der geringen gesellschaftlichen Rolle der Architektur und der Städtebauplanung. Architektur und Städtebau sind in dieser Abseitsposition als zukunftsweisende Instrumente komplett entkräftet. Obwohl jeder Immobilienbesitzer direkt oder indirekt davon betroffen ist, sind die strukturellen Folgen des Wachstums der Finanzindustrie bezüglich der Werte unserer Immobilien kaum bekannt. Zwischen 2000 und 2007 sind etwa 5 Prozent des deutschen Wohnungsbestands von großen, meistens amerikanischen Anliegerfonds übernommen worden. Große Immobiliendeals - einer der bekanntesten war der Dresdener Immobiliendeal in 2006, bei dem 48.000 Wohnungen zu einem Gesamtpreis von 1,7 Milliarden über den Tisch gingen - haben zu einer Verramschung eines Teils des Wohnungsmarktes geführt.
Die niedrigen, im Mengenrabatt herunter verhandelten Wohnungspreise bestimmen die Preise auf dem ganzen, auch privaten Markt und führen im Anschluss zu einem Druck auf die Geldmenge, die die Fondsmanager unter Zustimmung ihrer Aktionäre in die Immobilien investieren dürfen. Wenn die Wohnungen dazu auch standortbedingt kaum Mieteinnahmen bringen, wird es schwierig - wenn nicht unmöglich - wertige und damit teurere Instandhaltungen auf den Weg zu bringen. Qualität, Beständigkeit, Kulturrelevanz interessieren im großen Finanzgeschäft nicht im Geringsten. Immobilien müssen also für immer weniger Geld saniert, und Neubauten billig gebaut werden. Nur günstige Lösungen werden von gewinnorientierten Aktionären akzeptiert. Das ist das eigentliche Dilemma der ganzen Baubranche, unsichtbar schleichend aber mit verheerenden Konsequenzen für die Baukultur.
© Molter Linnemann Architekten 2010