TXT Infrastrukturen & Lebensräume

In September 2015 wird der Deutsche Werkbund sich in Mainz treffen, um, angesichts der rasanten gegenwärtigen technischen Entwicklungen, sich dem Thema „Infrastruktur“ zu widmen und die zukünftige Organisation unserer Städte und unseres Zusammenleben zu besprechen. Nach Meinung vieler Experten, die sich mit Infrastrukturen beschäftigen, wird die Verschmelzung digitaler und analoger Infrastrukturen die räumliche Organisation der Gesellschaft umfassend verändern. Die Klausur ist ein Beitrag des Deutschen Werkbundes, die Gestaltung des zukünftigen Zusammenlebens in diesem Bereich zu erschließen.

Die gegenwärtige global agierende Gesellschaft ist erst durch eine Reihe technischer Infrastrukturen möglich geworden. Existierten bis vor wenigen Jahren alle Infrastrukturen zum größten Teil unabhängig voneinander, hat die Konvergenz der analogen und digitalen Infrastrukturen und der damit einhergehenden Maßstabsvergrößerung eine Wucht und Geschwindigkeit angenommen, die nur die Wenigsten voraussagen konnten. Die Infrastrukturen zeichnen in zunehmendem Maße eine weitgehende gegenseitige Abhängigkeit auf. Alle Infrastrukturen sind davon betroffen: die Transport-Infrastrukturen, der Auto-, Schienen- und Flugverkehr und die Schifffahrt, ebenso die Infrastrukturen der Energie- und Wasserversorgung insbesondere aber die Kommunikationsinfrastrukturen. Die Knoten der Infrastrukturen bestimmen seit eh und je, wie und wo wir arbeiten, wo wir leben, wohnen und Gemeinschaften bilden. Das ständige Wachstum der Metropolregionen und die unerbittliche Entvölkerung des ländlichen Raums sind aktuelle Symptome der Verdichtung der Infrastrukturen.

Zwischenzeitlich verstehen wir einigermaßen die unabänderliche Durchdringung unserer Lebenswelt durch digitale, übergeordnete Infrastrukturen, von denen wir mehr und mehr abhängig werden. Beispielhaft könnten wir die Mobilität der Gesellschaft, ein klassisches Tätigkeitsfeld des Deutschen Werkbundes, vertiefend untersuchen. Die räumliche Form der Mobilitätsinfrastruktur wird stark vom Verhalten individueller Verkehrsteilnehmer bestimmt und ist bislang von der digitalen Vernetzung relativ unberührt geblieben ist. Das ändert sich zurzeit schnell, und noch ist nicht klar, wie die Digitalisierung der Mobilität sich auf die Organisation und die Raumverteilung unserer Lebensräume auswirken wird. Sicher ist nur, dass ein tiefgreifender Umbruch ansteht, der sich nicht auf Autos und Wegenetze beschränken wird.

In den letzten 20 Jahren veränderte sich die Art und Weise, wie Menschen sich begegnen und sich Wissen aneignen, radikal. All diese Änderungen wurden möglich und funktionieren mittels Netzwerken, Sensoren und mobiler Kommunikation. Die Technologien durchdringen auch die städtischen Räume, ja, nahezu jeden physisch erfahrbaren Raum. In der Tat kann man feststellen, dass unsere Städte inzwischen zu intelligenten Objekten geworden sind. Sie sammeln ständig Informationen und werden demzufolge immer ‚intelligenter‘. Diese Intelligenz lässt sich heute in Echtzeit anzapfen. Städte werden zu räumlichen Datenbasen, die nahtlos Informationen in jeder Größe und über jeden Aspekt des Lebensablaufs zusammenbringen und überall von Zugriffsberechtigten abrufbar sind.

Dank extrem schnellen Fortschritts in der künstlichen Intelligenz und der Sensortechnik gibt es heute das völlig autonome Auto, das nahezu fehlerfreie und damit unfallfreie Mobilität ermöglicht. Rechtliche Gründe dürften zurzeit das größte Hindernis für die allgemeine Zulassung solcher Pkw und Lkw sein. Die Autoindustrie hat kein besonders großes Interesse, solche Fahrzeuge marktreif zu entwickeln. Es gibt durchaus plausible Schätzungen, dass 50% weniger (völlig autonome) Fahrzeuge die gleiche Anzahl Fahrbewegungen, die heutzutage stattfinden, werden leisten können. Diese Autos werden nicht mehr käuflich sein. So ist es leicht nachvollziehbar, warum die Automobil-Lobby zunächst anderen Interessen folgt. Die großen Internetfirmen hingegen wollen diese Entwicklungen schnellstmöglich vorantreiben, da das autonome Auto wertvolle Daten generiert.

Das autonome Auto liest mittels Radar, Kameras und Laserscanner Straßen und Umfeld. Die Umwelt wird von dem Fahrzeug ständig kartiert. Somit ist es fähig, auf (fast) alle erwarteten und unerwarteten Situationen angemessen zu reagieren. Darüber hinaus stehen autonome Fahrzeuge in ständigem Austausch mit digitalen Informationsprovidern. Sie sind also eine wichtige Schnittstelle zwischen Umwelt und Infrastruktur. Die intelligente Stadt wird die Fahrten der einzelnen Autos algorithmisch optimieren. Autonome, vernetzte Fahrzeuge werden sich nicht verfahren, verursachen weniger Staus und verkürzen Fahrzeiten. Weiterhin werden sie die Straßen sicherer machen: Zurzeit sterben etwa 3400 Menschen pro Jahr in Deutschland durch Autounfälle, die meisten verursacht durch fehlerhaftes Fahrverhalten. Die Informationen, die von einzelnen Autos gesammelt werden, fließen in die Datenbanken der Stadt. Die Körnung dieser Informationen verfeinert sich mit der Zeit, bis zur Erfassung der einzelnen individuellen Bewegungsmuster. Genau darin steckt ein riesiger kommerzieller Wert: Das autonome Auto sammelt nicht nur Informationen über Verkehr und Umwelt sondern auch anhand der Bewegungsmuster eine Vielfalt an Informationen über die Passagiere selbst. Die Computer des Fahrzeugs haben aber auch Kenntnis darüber, mit wem und wann man telefoniert, welche Radiosender man hört und welche Musik man spielt: Die Autos wissen Bescheid über die Lebensmuster ihrer Nutzer. Solche Daten sind schwer umkämpft. Es ist eine wichtige gesellschaftliche Frage, ob diese Informationen öffentlich oder privat sind, wer Zugriff auf diese Informationen haben wird und wer diejenigen, die Zugriff auf die Daten haben, kontrollieren wird.

Eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen wird sein, die grundlegende Logistik und die Gesetzmäßigkeiten der neuen Transportart zu lösen. Zum Beispiel ist die Frage, wer im Falle eines mit einem selbstfahrenden Auto verursachten Unfalls haftet, noch offen. Digitale Sicherheit ist ein zweiter Aspekt. Computerviren, die in den Bordcomputer eines selbstfahrenden Autos eingreifen (hacken), können tödliche Folgen für die Passagiere haben. Ein Hack in städtische Systeme könnte noch viel schrecklichere Folgen auslösen, da alle mit dem System verbundenen Autos fehlgelenkt werden könnten. Bislang hat die Technologie sich immer weiter entwickelt, und keines dieser Probleme ist prinzipiell unüberwindbar. Immerhin finden in Deutschland jetzt schon auf öffentlichen Autobahnstrecken Versuche mit fahrerlosen Fahrzeugen statt. Der Umbruch steht in den Startblöcken, jedoch müssen etliche, eher soziale und gesellschaftliche Bedingungen noch ausdiskutiert werden. Die Bundesregierung ist dabei, eine nationale Politik für Mobilitätsfragen zu entwickeln. Auch andere Länder Europas versuchen zwischenzeitlich die relevanten Fragen zu beantworten. Der europäische Konsens ist eine Voraussetzung für eine großmaßstäbliche Einführung des autonomen Fahrzeugs. Dabei fokussiert man hauptsächlich auf Technik und Recht. Wesentliche Konsequenzen für die sozialen Verhältnissen zwischen Menschen, die Änderungen im Wohn- und Arbeitsbereich und eine Neudefinition der Verhältnisse zwischen Stadt und Land betreffen, werden nicht bedacht. Sie werden aber eintreten.

In den Vereinigten Staaten ist man weiter. Forscher am MIT Senseable City Laboratory untersuchen die Folgen solcher autonomen Technologien. Selbstfahrende Fahrzeuge werden einen dramatischen Einfluss auf das städtische Leben haben. Im Prinzip können sie auch ohne menschliche Fracht fahren, die Trennung zwischen privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln wird sich dadurch wahrscheinlich auflösen. Nach einer Fahrt (z. B. zum Arbeitsplatz) wird das Auto nicht 20-plus Stunden unbewegt einen Parkplatz in Anspruch nehmen. Die MIT-Forscher zeigen, dass durch die Kombination von Mitfahrzentralen mit Car-Sharing - vor allem in großen Städten und Ballungsräumen - mit 80 Prozent weniger Autos zeitgerecht die gleiche Anzahl Passagieren transportiert werden kann.

Entfallen vier von fünf Autos in unserem Lebensraum, so hat das zunächst Auswirkungen auf die notwendigen Parkflächen, aber auch tiefgreifende Konsequenzen für die Organisation der Städte, die Umwelt und die Effizienz des Verkehrs. In den meisten Städten schlucken Parkplätze riesige Flächen. Reduziert sich die Autozahl, so könnte man einen Großteil dieser Flächen für andere Zwecke nutzen. Autonome Autos ermöglichen, kostbare Flächen im innerstädtischen Raum, in Wohngebieten usw. zu schonen und an anderen Stellen zu parken. Die höhere Effizienz des Verkehrs hat auch entscheidende Folgen für die kommerzielle Funktion der Städte. Die Distribution von Gütern wird in naher Zukunft autark geleistet werden, also zum größten Teil ohne menschliches Personal. Der Wettbewerbsvorteil netzbasierten Güterhandels (inklusive der alltäglichen Lebensmittel) wird im Vergleich zur gegenwärtigen Situation noch größer. Was bedeutet das für die Städte und Kommunen? Was bedeutet das für den öffentlichen Raum? Mit welchen Funktionen werden die Erdgeschosse der Städte gefüllt sein? Wie werden wir die Straßen einrichten, nutzen und beleben können? Und welche sozialen Änderungen gehen damit einher?

Die Gestalt der Autos selbst wird sich ändern. Im Auto werden wir arbeiten, kommunizieren, uns konzentrieren, aber auch entspannen können. Werden sich die Interieure der Autos zu Erweiterungen unserer Wohn- und Arbeitsräume entwickeln? Und wie wird sich das auswirken auf unser Wohn- und Arbeitsverhalten, auf die Organisation der Arbeitsabläufe, letztendlich auf unseren Lebensraum?

Wenn Familien in isolierteren Wohnorten nicht mehr von Versorgung, Bildung, Sport und anderen Freizeitgestaltungen abgeschnitten sind, wenn Kinder unabhängig von ihren Eltern weiter entfernte Veranstaltungsorte erreichen können, wird der ländliche Raum dann wieder ein attraktiver Siedlungsraum sein? Werden die Einzugsbereiche der Ballungsräume sich vergrößern, oder gibt es wichtigere Bedingungen und Voraussetzungen, um an weiter entfernten Orten zu leben?

Das sind Fragen, die Städtebau und Landschaftsplanung zu beantworten haben. Die Änderungen in der Mobilität werden große soziale, psychologische und städtebauliche Folgen für unsere Gesellschaft haben. Wir werden den öffentlichen Raum und das Verhältnis zwischen Stadt und Land grundsätzlich neu denken müssen. Im Hinblick auf seine Geschichte und seinen Anspruch sollte der Deutsche Werkbund versuchen, eine Rolle bei der Klärung der Chancen und Risiken dieser Entwicklungen zu spielen. Die Klausur am 26. September 2015 in Mainz könnte ein erster Anstoß sein. Lasst uns erörtern, wie wir uns einbringen können.

Mark Linnemann

August 2015 Werkbund Rheinland-Pfalz