TXT Wie wir Bauen

Vergangenheit und Zukunft

Es gab eine Zeit, in der Architekten voller Leidenschaft Utopien zeichneten und darstellten. Beispiele gibt es viele: Plänen für ideale Städte in der Barock, die Cité Industrielle von Fournier/Garnier, Broadacre City von Wright, New Regional Patterns von Hilbersheimer, Plug-In City und Walking-City von Archigram, No-Stop City von Archizoom usw. Absicht war, für die Zukunft soziale und gesellschaftliche Aussagen zu treffen und Wunschbilder geprägt durch einen positiven Fortschrittsglauben zu entwickeln. Die Utopie war ein Instrument, mit dem man versuchte, sich der Zukunft vom reflektierten Standpunkt der Gegenwart aus anzunähern. Eine wirkliche Kenntnis über die Zukunft, so wie sie gegenwärtig in statistisch fundierten Zahlenwerken vermittelt wird, gab es damals nicht. Heute lassen sich insbesondere demografische und ökonomische Entwicklungen, sehr relevant für Architektur und Städtebau, über eine Zeitperiode von etwa 20-30 Jahren gut voraussagen. Die zurzeit übermächtig wirkende Finanzkrise und politische Krise der Eurozone haben keinen wirklichen Einfluss auf makroökonomische Änderungen wie zum Beispiel das Verschieben des Wirtschaftsschwerpunkts von der Ersten in die Zweite bzw. Dritte Welt oder die demografischen Entwicklungen in Europa. Diese Langzeitentwicklungen haben aber einen realen, direkten Einfluss auf die deutsche Architekturlandschaft und den Städtebau. Leider bergen sie viele negative Phänomene wie massive Immobilienentwertungen, infrastrukturelle Überlastung und Unternutzung, exzessiver Landverbrauch und so weiter. Schon heute und nicht erst in weiter Zukunft müssen wir uns mit diesen auseinanderzusetzen. Doch negative Botschaften gerade in der heutigen gebeutelten Zeit sind nicht erwünscht. Die Alltagsbewältigung – der Berufsstand befindet sich in einer kritischen Situation (zu viele Architekten / zu wenige Aufträge, siehe hierzu auch Baumeister 11-2011) - zwingt zur Verbreitung guter Nachricht oder zu weniger kritischen Haltung. Der eigene Tellerrand ist da schon eine ausreichend hohe Klippe. Den Interessen eines Einzelnen (Bauherrn) gegenüber den Interessen der Gemeinschaft ist damit aber auch oft Vorschub geleistet.

Wichtung der Interessen

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat der ständig wachsende Wohlstand zu einer permanent zunehmenden Individualisierung in einer pluralistischen Gesellschaft geführt. Die Wichtung privater Interessen zu Ungunsten der Öffentlichkeit und des öffentlichen Raums hängt direkt damit zusammen (wie z. B. bei der Entwicklung von Shopping Malls im innerstädtischen Kontext). Die prognostizierte Abnahme des Wohlstands wird diese Verhältnisse vermutlich wieder invertieren. Solange werden sich die Interessen aller Beteiligten (der Bauherr, der Nutzer, die Planer und die Verwaltung) an der Gestaltung der Umwelt nur durchsetzen lassen, wenn diese im Dialog miteinander und nicht zeitlich versetzt planen. Solches Handeln führt zur Entschleunigung des Bauens, doch gerade im Hinblick der Langzeitwirkung von Architektur ist das nur angemessen. Diese Planungskultur einzufordern und anzuführen, ist eine der wichtigen Verantwortlichkeiten des Architekten. Durch den Klimawandel, das endende fossilen Verbrennungszeitalter und die endende atomare Energieversorgung werden die Architekten vor eine weitere Aufgabe und eine neue Verantwortung gestellt. Architektur muss jedoch vielen Aufgaben und Anforderungen gerecht werden. Einen Entwurf voranzubringen (bis zum gebauten Werk) hat immer auch mit der Wichtung der kontextuell relevanten Einflüsse zu tun. Die Fokussierung auf Ökonomie und dämmungsorientierte Energieeffizienz hat zu einer einseitigen Architekturproduktion geführt. Ein Großteil der Architektur ist in der praktizierten Uniformität unsichtbar geworden, Vielfältigkeit durch Beliebigkeit ersetzt. Innovation, die Architektur in Deutschland für die Zukunft überlebensfähig macht, die tatsächlich dem neuen Stand der Technik entspricht, hat noch nicht die Masse des Bauens erreicht. Heute entworfene und gebaute Einzelgebäude oder Gebäudeensembles, die nicht vollständig energetisch autark sind, werden in zirka 20 Jahren kaum noch ihre Investition wert sein. Die Vermittlung und Aufklärung tatsächlich nachhaltiger Lösungen, die nicht nur den Rahmen gesetzlichen Vorgaben erfüllen, ist Aufgabe des Architekten.

Ausdruck der Zeit

Das Dach über dem Kopf ist ein Primärbedürfnis, dessen bauliche Umsetzung als Ausdruck der Zeit auch immer die Wertschätzung der Gesellschaft darstellen wird. Identitäten schaffen bzw. erhalten und das Recht auf Erinnerung sind gesellschaftliche, soziale Verantwortlichkeiten, die ein Architekt mitgestaltet. Der gegenwärtige architektonische Ausdruck der deutschen Architektur bewegt sich paradoxerweise zwischen drohendem Identitätsverlust (durch Dämmmaßnahmen an identitätsstiftenden Bestand und uniformen Ausdruck) und plagiierter Erinnerung durch historisierende Heilungsarchitektur. Vielleicht ist diese Selbstbeschränkung der Grund dafür, dass in Deutschland kulturelle Gebäude von übergeordneter Bedeutung, bei denen noch eine große gestalterische Freiheit besteht, nahezu nur von ausländischen Architekten errichtet werden. Mit Aussagen über allgemein bekannte Entwicklungen ist kein Geld und damit kein Ansehen zu verdienen. Über diese Entwicklungen die richtigen, übergeordneten Fragen zu stellen und gezielte Planungsprozesse anzustoßen, sind jedoch die größte und einzige Chance gesellschaftsrelevante Beiträge zu leisten und eine lebenswerte Umwelt zu schaffen. Opfer, die im Bewältigen der Klimakrise den Gebäuden abverlangt wurden, wären durch planmäßiges Vorgehen verhindert worden. Es nutzt nicht, wichtige Entscheidungen hinauszuzögern oder sich den Aufgaben nur schrittweise anzunähern. Die demografischen Änderungen in Deutschland werden neue Chancen schaffen. Die anstehende Verdichtung der Metropolregionen und das entleeren des Landes wird Raum für neue Städtebaumodelle, neue Formen des Zusammenlebens und neue Gebäudetypologien bieten. Die Architekten sollten hier ihre traditionelle Rolle als Vordenker wieder annehmen, sich die Freiheit nehmen, grundsätzlich nachzudenken und eine gesellschaftliche Position zu beziehen. Auch heute gibt es die Notwendigkeit visionär zu denken und Utopien zu entwickeln. Als konzentriert durchdachte Gedankengerüste existieren sie losgelöst vom spezifischen Kontext. Die größte Herausforderung des Architekten wird wohl sein, in einer übermedialisierten Welt, zugemüllt mit sinnlosen Informationen, seinen sozialen und gesellschaftlichen Ideen Gehör zu verschaffen.